Montag, 9. Dezember 2013

Aus der Erzählung des Wildschweins

Marie hat so schöne Narben. Jeder spricht sie darauf an. Im Sommer schimmern die frischen Stellen zwischen der Hellen Haut im Licht als würde Glitzer in den blutverkrusteten Schlitzen darauf tanzen.
Seltsam, ich bekomme Gänsehaut wenn ich daran denke den Glitzer herauskratzen zu wollen.
Ich selbst habe leider noch keine Narben. Dafür bin ich noch zu jung, so sagen es die anderen. Meine Narben muss ich mir erst verdienen.

Samantha hat eine Klasse übersprungen. Sie hat sich zu ihren 14. Geburtstag vergewaltigen lassen. Ihre Eltern konnten gar nicht abwarten, dass sie sich ihre ersten Narben zufügte und zeigten ihr Dokumentationen in denen Menschen sich die Haut von den Armen schnitten und diese aßen. Doch Samanthas Narben sehen nicht so schmerzhaft aus wie die von Marie. Eher wie Gewohnheitsschnitte.
Das ist ähnlich den Tätowierungen die unsere Eltern und deren Freunde haben. Ein lapidares Bild von irgendwas das einfach auf der Haut thront. Mein Vater erzählte mir, dass er damals ein Mädchen wie Marie sofort geheiratet hätte aufgrund der Narben. Meine Mutter hat nur 2 Narben und die geschahen durch einen Unfall. Dafür gab es keine Anerkennung. Unfälle geschehen jedem.

Vor 2 Wochen stand ich mal ganz vorne in der Schlange, die sich zu Marie hinzog. Ich fragte sie ganz dezent, wie es sich anfühlt, wenn die Narben geschehen. Marie war ganz erfreut auf die Frage, so schien es mir zumindest.
Sie sprach von einem Hauch des Todes, geparrt mit Angst und Sehnsucht. Aufregend und beängstigend zu gleich. Jedenfalls sehr interessant.
Marie hat wirklich Glück, dass ihre Eltern ihr schon erlauben sich Narben zuzufügen. Meine scheinen mich nicht genug zu mögen. Sie sagen, dass irgendwann die richtige Zeit dafür gekommen ist. Irgendwann ist aber scheiße. Ich will jetzt gezeichnet vom Leben sein. Aber ich darf ja nicht mal Abends raus. Und einen Freund finde ich auch nicht, solange ich keine Narben habe.

Abends beim Essen, schnitten meine Eltern kurz vor dem Servieren den Unterarm von Denise, meiner Schwester, an um das Essen mit dem Blut unserer Familie zu segnen. Denise begann den Fehler sich selbst zu schneiden ohne ein Erlebnis zu haben. Weder starb eine enge Beziehungsperson von ihr, noch hatte sie Schulstress oder familiären. Sie wollte wie ich einfach auch mal beachtet werden. Aber Selbstschneider müssen 10 Jahre lang daheim bleiben und sollen 1 mal im Monat ihr Blut dem Essen wiedergeben, dass allesamt verspeisen. Ihr Blut schmeckt mir aber uninteressant.
Ich würd gern wissen ob meines interessanter schmeckt. Aber ich bin die letzte Hoffnung meiner Eltern und darf nicht auf den Wegen meiner Schwester wandeln. Ich muss mir die Narben erst verdienen.

In der Nach konnte ich nicht schlafen. Wieder ein Traum bei dem mir ein Killer nur knapp die Kehle aufschnitt ich mich aber befreien konnte und das Blut an mir herunter laufen sah. Ein Traum im Wachzustand. Wo sind die Killer wenn man sie braucht? Draußen sind die Straßen leer. Niemand geht mehr raus. Nicht aus Angst, sondern rein aus Faulheit.
In der Küche fand ich das alte Brotmesser, während ich mir eine Currywurst in der Microwelle warm machte.
Gerade denke ich an Omas Geschichten von ihrer Zeit. Zu den Anfängen der Narben. Als die Menschen noch Probleme hatten und sich für alles was sie nicht regeln konnten sich Narben zufügen konnten ohne Anerkennung oder aber Bestrafung zu erleiden. Ich war Omas Pokémon. Sie piercte meine Lippen, den Bauchnabel und die Augenbrauen als ich 10 wurde. Kurz danach gab es Piercingkabinen für 10€. Gleich neben den Fotokabinen aus den 90ern die kaum einer mehr nutzt. Mir gefallen diese Kabinen irgendwie.

Mir fiel kaum auf, dass ich die Currywurst stehen ließ und mit dem Brotmesser in meinem Zimmer stand. Ich schaute zum Fenster hinaus, sah den Mond hellerleuchtet. Ebenso fühlte ich eine beängstigende kitzelige Berührung auf meinem Arm.
Blut, eine winzige Blutspur. Hervorgerufen von dem Messer, das ebenfalls etwas Blut an seinen Kanten hatte. Ich habe mich wohl unbemerkt geschnitten, und das nicht gerade tief. Dennoch klafft eine Rinne in meiner Haut die der einer Wurst ähnelt.
Ich fühle befriedigende Angst, mein Atem ist hörbar wie das rascheln der Mäuse auf dem Dachboden. Ich will mehr.

Um von meinen Eltern nicht erwischt zu werden, stieg ich in meinen Kleiderschrank und verschloss die Türen von innen. Vielleicht hätte ich ein Licht mitnehmen sollen, doch wozu. Was ich nicht sehe ist auch nicht zum fürchten. Ich spürte den leichten Druck, mit dem ich die Klinge des Messers an mein Arm  drückte und zog sie rasch in eine Richtung die von mir weg zeigte. Kurzes Flimmern vor den Augen, ein zucken und dann Wärme und das kitzelige Gefühl. Es ist schön. Ich mag das.
Ich schnitt wieder eine weitere Kerbe, nachdem das Gefühl verschwand. Das könnte ich die ganze Nacht machen, wobei ich mich schon schläfrig fühle aber auch zu schwach für das Bett.

Ein warmer Hauch gleitete um meinen Hals, als würde eine fremde Person hinter mir sitzen und mich gleich an sie reißen. Ich werde hoffentlich vergewaltigt, dann sind die Narben sogar berechtigt. Ich zog das Messer schnell über meine Handfläche und streckte sie nach hinten zu der Schrankwand, die jedoch kaum auffindbar war. Mein Puls beschleunigte sich, als eine warme weiche feuchte Masse sich um meine Hand schwang und wie ein Tentakel mit Pümpel an ihr saugte. Ich bezweifel, dass ein Vergewaltigung durch ein Monster nicht etwas unglaublich ist, aber es ist mir egal. Ich zog die Hand weg von dieser Masse und beugte mich nach vorne. Ein Schnauben war spürbar jedoch nicht hörbar.
Dann fuhr etwas blitzschnell durch meinen Rücken. Das müssen mindestens 5 Klingen gewesen sein.

Warmes pumpendes Blut trat aus meinen Rücken hervor, ich spürte deutlich, wie es langsam zu meinem Arsch floss. Ich zog meine Unterlippe hervor und mit einem Rutsch teilte ich sie mit dem Messer in zwei hälften. Mein Blut schmeckt köstlich. Ich schlief ein.

Nachdem ich erwachte, war ich bewegungslos. Gar starr stand ich in einem Wald der kein Gras und kein Moos hatte. Kahle menschenfarbene Bäume um mich herum. Und ich war einer von ihnen.
Ein Kodiakbär tapste auf mich zu, mit einem teilweise genervten Blick. Er schmiegte sich um meinen Stamm, vergewaltigte mich quasi. Dann wetzte er seine Krallen in mein Holz und verpasste ihn wundervolle Narben. Ich denke zurück, und wünschte mir ein Mensch zu sein, um mir selbst Narben zuzufügen ohne auf einen Bär zu warten. Sonnenstrahlen schädigen meine Haut, deren Rinde längst nicht mehr nachwächst. Nur der Mond gibt mir noch Kraft zum hoffen. Der Mond und seine Krater, die wie Runde Narben aussehen.

Ich wünschte ich wäre der Mond. Ich wäre berühmt und jeder würde mich beachten.

Samstag, 7. Dezember 2013

Muffeliger Knastboy

Nun ist Jacky bisher der erste und auch einzige des Trends, den wir ins Leben gerufen haben. Zeitweise saß er aufgrund von perversionistischer Veröffentlichung dieser im Knast.
Jedoch hole ich aus um das zu erklären.

Jacky und ich, beide mit Tätowierungen und Piercings gut genährt, saßen am Dienstag nachmittags wie jeden Wochentag außerhalb des Wochenendes angetrunken am Markplatz.
Wir schmiedeten Theorien über die an uns vorbeilaufenden Trends. Die Klamottenfarben, Formen, die Art der Modifikationen des Körpers sowie auch die Sprachweise.
Während ich der Theoretiker bin, ist Jacky die Dampfwalze. Das heißt, setzt er sich was in den Kopf denkt er nicht drüber nach sondern erledigt das bzw. lässt es erledigen. Somit hat er auch keine Fingernägel mehr sondern Spikes an den Fingerspitzen.
Ein einziger Trieb deren Idee an einem Dienstagabend entstand und am Freitag erledigt wurde.
Der einzige der dazu fähig war, bin ich. Ich kenne Jackys Verträglichkeit und kann ebenso medizinisches Wissen beweisen wenn es um schwierige Möglichkeiten geht.

Nun, wir saßen mal wieder dort wie schon erwähnt. Und sahen die 16jährigen mit ihren ersten Tätowierungen und lachten sie aus. Warum wissen wir nicht. Jedoch war der standardkram den sie sich überall hinwünschten ein Graus. Manche nannten wir Kopien, da sie selbige Symbolik an gleicher Stelle wie jemand anders hatten. Zwischen: Kreuzen, Schleifen, Tribals, Personenbilder und Daten immer das gleiche gekritzelte Zeugs.
Jacky meinte jedoch in einen Moment: "Haut ist ja schön und gut, aber es muss doch noch tiefer gehen". In meinem Rausch sagte ich lachend zu ihn "ich hab noch ein Graviergerät mit dem ich das Besteck meiner Eltern verzierte. Damit könnte ich dir ja Muster in die Haut gravieren".
Jacky jedoch lachte nicht. Er hatte diesen Auja-Blick. Ich weiß genau, hat er ihn, wird er ihn gegen mich einsetzen. Und das tat er auch.

Am folgenden Donnerstag kam er mit einer Menge Alkohol und Betäubungsmitteln in mein Studio. Ich, der Tätowierer seines Vertrauens, dessen unterernährte Bude als Studio dient dachte er würde bis jetzt diese Idee noch überdenken. Doch er platzte mit einem Plan in mein Eigen, dem ich nur abweisen konnte. Leider ist Alkohol meine Schwäche, und je mehr er einschank desto mehr folgte ich seinen Worten.
Bis ich nur noch weiß wie wir morgens aufeinander aufwachten. Alles lag verteilt auf dem Boden während sein Kopf komplett verbunden war bis auf das Gesicht. Jedoch war er putzmunter. Ich hatte indessen Albträume, ich sah wie ich mich an seinen Kopf vergriff.
Jacky ging nach einiger Zeit und ich räumte auf, eröffnete den Laden und wartete vergeblich auf die Kunden. Schließlich ist heutzutage schon jeder soweit Tätowiert das kaum noch jemand gestochen werden müsste, außer um die letzten Hautpartikel noch zu füllen.
Ich klickte auf meinem Smartphone herum. Ich suchte Social-Sites auf, die ich als App installierte. Bei einer wollte ich einen der berüchtigten mehrdeutigen Bilder posten, die jeder macht und von denen ich noch einige auf dem Handy habe.
Jedoch fand ich in meinem Bilderordner Fotos, die mir unbekannt waren. Bilder von einem blutigen Schädel, dessen Kopfhaut einfach nach hinten geklappt waren. Dann ein Bild vom gleichen bei dem jemand "Treib mir den Teufel aus" sowie "Nur der Tod kann mich retten" in den Schädel graviert hat.
Und dann ein Bild, von mir, neben dieser Person die Jacky ganz gewaltig ähnlich sah und dessen Kopfhaut fehlte grinsend mit roten Augen als Selfie.
Einen Moment wurde mir schlecht, dann klingelte mein Handy. Es war Jacky total euphorisch:
"Alter, ich war grad duschen. Beim Haare waschen klappte einfach mein Skalp nach hinten und ich spürte dein Kunstwerk! Saugeil Alter ich muss Schlus machen".

Sind wir zu weit gegangen? Ich weiß es nicht. Kurz darauf wollte ich Jacky treffen, jedoch waren auf dem Weg zum Markplatz bereits Personen am schreien. Was für sensibelchen. Eine Menge zwischen Kotze und verstörter Gesichter und mittendrin: Jacky der stetig an seinen Haaren zieht und seine Kopfhaut abzieht und die Gravuren präsentiert die sich auf seinen Schädel befinden.
Was besonders ist, er hat sie sogar mit Edding nachgezogen damit sie erkenntlich sind. Mit einem roten. Weiß er nicht, dass dies eventuell giftig wirkt, wenn er seine Kopfhaut wieder drauf setzt?

Ich nahm ihn an den Arm bevor die Polizei kam und schleifte ihn halbwegs verschlafen in einen 1€-Shop und kaufte Tacker sowie Nadel und Faden. Dann gingen wir zum McDonalds, auf die Toilette aber nicht um zu scheißen sondern zum modifizieren seiner Modifikation. Ich tackerte seine Halbwegs gezerrte Kopfhaut sicherer an die gefestigten Zonen und verarztete sie mit Nadel und Faden. Da er sowieso kurze Haare neben seinen Irokesen-Schnitt besaß gaben die Farben des Fadens einen besonderen Touch. Ihm gefiel das sehr, doch machte er sich sorgen um das Eitern sowie die Gerinnung des Blutes.
Ich schlug vor, eine Art Plexiglas an den Stellen einzurichten, das wir an seinen Schädel schraubten damit er nicht mehr die Leute mit Skalpieren schockieren musste. Er willigte ein. Doch schon beim Treppenabgang wartete die Polizei die ihn einkassierte.

Seitdem saß er mehrere Tage in einer Zelle und musste sich auf seine geistige Gesundheit überprüfen lassen. Da er im Prinzip jedoch nie Zurechnugsfähig war, ist er im nüchternen Zustand zu gar nichts zu gebrauchen. Meinen Laden musste ich erstmal aufgeben.
Jetzt redet jeder über Jacky, doch die Plexiglasidee wurde nie ausgeführt. Er skalpiert sich nun im Fernsehen während Leute darüber diskutieren, wie sich die Kopfhaut infiziert und langsam abfault.
Vermutlich muss ihn bald die gesamte Kopfhaut abgenommen werden und eine Neue kopfdecke transplantiert werden.

Gerade rief Jacky wieder an. Er will sich Löcher in den Schädel bohren lassen um auch sein Hirn präsentieren. Und in den Schädel soll das Plexiglas installiert werden.
Es ist Dienstag, also habe ich bis Freitag Zeit die Utensilien zu besorgen und medizinische Möglichkeiten in Erfahrungen zu bringen um das ganze ohne große Risiken zu erledigen.

Bleivergiftung

Tentakel einer silbrigen Schlange wuchsen aus ihrer Augenhöhle während sie kein Anzeichen einer freilebenden Henne von sich gab.
Mein Stottern hinderte auch nichts daran, und so klebte sie sich in das Abflussrohr des Ofens für immer. Soll ich wohl allein mit meinen dreigleisigen Kunstbeinen den Lift verbiegen. Ein schönes Schlamassel geformt in der Schale Handabdrucks meiner Nase. Ein Waschbecken schmolz, eine Straße flog davon. Keine Orientierung für den Dämon der Einkaufswagen!
Wir reiten zu zweit untereinander bis sie ihre Mooslandschaft aufgegessen hatte und gleiten dann auf einem teuren Mahagoniteppich gen Vergangenheit.
Ein Moment der Stille, ein Rauschen, dann ein Piepsen.
Der Bleistift steckt für immer in meinem Hirn, selbst wenn ich kläglich versuche mit der Schaufel an meinem Arm durch meinen Mund heranzukommen, so bleibt er doch ein Röntgenbild zum Schmunzeln für das Internetportal der Waschbären.

Sandwich-Zeit

"Du bist toll, wirklich! Ich hätte nie gedacht so eine wundervolle Person kennenzulernen"
Ich höre deutlich einen Zweifel in der eigenen Aussage von ihr.
"Ehrlich, ich wünschte ich hätte dich schon früher gekannt!"
Wenn sie so brüllt, werde ich meine Meinung nicht ändern.
"Bitte, ich will nicht...."
Sie will nicht? Alles um was ich sie gebeten habe war einmal in ihren verdammt oberflächlichen Leben nett zu mir zu sein. Einmal, nur dieses mal in meine Augen. Aber nicht mal das kriegt sie fertig. Nur weil ich nicht ihren Ideal entspreche.
"Ich kann nicht mehr"
Heult sie? Das ist keine Reue, das ist Verzweiflung. Total unerotisch. Auch wenn sie keinen Sex mit mir je praktizieren würde, genau jetzt widert sie mich mehr an. Da nützen auch die plastischen Operationen nichts. Das ist einfach hässlich.
"Was hast du vor?"
Ich mach mir jetzt ein Scheiß Sandwich, was für eine dumme Frage! Hat sie denn ihre letzten Gehirnzellen auch noch verloren als ich sie gebeugt über das Kreissägeblatt in der Holzverarbeitungsmaschine spannte?
"Tu das nicht bitte!"
Schon wieder brüllt sie. Herrgott, genauso wie die Mütter die vergeblich versuchten mir Benehmen beizubringen.

Sanft fügt sich jedoch der schrille Schrei und das Geräusch des Kreisenden Blattes, als ich auf den Startknopf drückte. Später werde ich sie dann falten, spannen und ihre Haut zu einem besonderen Papier verarbeiten. Dann tätowiere ich darauf das Wort "obtutus" und verkaufe es.

Gegen den Regen lehnen

Eingeschlagene Möwen vom Fenster kratzen, ihr Blut mit Reinigungsmittel mischen und es an den Scheiben so verteilen, dass eine klare Durchsicht ermöglicht wird. Toller Zeitvertreib. Ich bin mir sicher, dass an diesem Konferenzraum schon 20 Möwen starben. Blicke ich zurück, sehe das Ufer nahe dem Strand am Hochhaus, erblicke ich salzluftschnuppernde Bonzen in Anzügen. Wäre ich Möwe, so würde ich eher die Champagnerspaziergänger einscheißen als vom Blut meiner Verwandten, das seicht am Fenster verteilt gemischt angelockt zu werden um wie sie zu enden.
Steckengebliebene Schnäbel stecke ich ein, ich sammel sie schon länger als ich sonstige Leidenschaften je ausleben kann.
Herr Hansen tritt ein, würdigt mir jedoch kaum eines Blickes. Ich bin eine Selbstverständlichkeit, abgetrennt von Glas. An der Grenze der Schichten von Verdienst und Hungerlohn. Ich hasse seine Krawatte, sie bedeutet Wochenende. Wochenende am Mittwoch.
Seine Sekretärin Marie, früher nannte ich sie Susi, tritt ein. Sie ist das einzig schöne in diesem Stockwerk. Ebenso wie Hansen besitzt sie ihren Namen nur, weil die Namen ihren Charakter für mich repräsentieren. Ich kenne sie nicht persönlich, werde es wohl auch nie.
Nunja, gleich werden die Jalousien sich schließen und beide werden zu ihren geschäftlichen Mittwochsdiensten greifen. Der übliche Wochenendfick, bevor er wieder seinen Helikopter nimmt und seine Kinder besucht. Einst hinterließ ich ein Spiegelverkehrtes "Flieh" geschmiert in der Scheibe um ihr eine Hoffnung, einen Wink zu geben. Doch der Regen hier war nie mein Freund.
Tropfen, die mir in den Nacken wehen und unter meinem Hemd den Rücken herunterstreifen.

Noch lässt er auf sich warten, der Sauerwassergeladene Flüssigkeitssprüher des Novembers. Heute soll es stürmen, doch mit gesicherten Gurten lasse ich mich nicht abhalten.
Nur noch 2 Hochsicherheitsgläser und ich bin bereit für meine Kündigung. Ein Knopfdruck und meine Gondel bewegt sich nach unten, zu den Robotersklaven in ihren Kabinen des Büros.
Hier sitzen halbe Hemden, geschmierte Frisuren und PC-Beziehungen. Ab und an tauscht man ihre Stellungen und neue Personen finden einen neuen Platz hier. Ob sie gefeuert oder einfach ausgetauscht und gewechselt werden ist mir nicht bewusst. Jedoch ist das Blut des letzten Kerls teilweise immer noch an der Innenseite der Scheibe zu sehen. Ein ziemlich junger Kerl, der sich von einem zum nächsten Moment die Hand an den Schreibtisch getackert hat als der Sicherheitsdienst seinen Schreibtisch leeren wollten. Er lebte wohl für seinen Tisch. Ich vermute daheim wartete nichts für ihn, keine Frau keine Kinder kein Leben. Ich hätte ihn einen Schnabel geschenkt. Einen von den 20 in meiner Tasche, zwischen den Putzmitteln.

Es tröpfelt auf die Scheiben, der Sturm zieht auf. Ich drehe das Volumen auf, mein MP3-Player war die teuerste Investition in diesem Jahr. 49€ Sonderangebot. Und ich besitze nur diese drei Lieder, von denen eines nur die Testmelodie des MP3-Players ist. Das zweite ist für besondere Notfälle. Weshalb ich das dritte während der Arbeit auf Repeat laufen lasse.
Das Lied ist von Hagalaz´ Runedance und heißt "On Wings of Rapture". Je stärker der Wind desto öfter erwische ich mich wie ich die Augen schließe und mich als fliegenden Adler vorstelle. "Dragon fly, Dragon fly. Through my eyes to the soul so old, from where?".

Meine Augen öffnen sich, vom inzwischen peitschenden Regenschauer im Nacken. Federn schweben an mir vorbei im Takt des Windes. Taktlos, aber ästhetisch. Eine Taube wollte Möwenreste lecken und endete wie seine Flugverwandten. Ich fahre die Gondel zu der feststeckenden Taube die wild kämpft in einem Tempo eines analogen Kampfdroiden.
"Dragon fly. Dragon fly. Spirit so young, filled with dreams and hopes... Never grow old"
Ich komme nicht bis ganz nach oben, die Winden haben sich verhedert am Flaschenzug des Fahrgestells.
Taube, bleib ruhig. Ich schnalle mich vom Sicherheitsgurt ab und Trete auf die Sicherheitsbrüstung, ramme jedoch mit der Schulter gegen das Glas, da ein Windzug mich beinahe den Taxiständen weit unten entgegengebracht hätte. Die Jalousien öffnen sich, doch mein Blick gilt der Taube die ich nur auf Zehenspitzen am Körper erreiche und mit einem sanften Ruck sie befreie. Ballancierend auf dem Geländer halte ich sie in meinen Armen und entdecke in Zeitlupe die Blicke von Herrn Hansen und Marie, nackt in einem römischen Kostüm. Er, der fette Cäsar und sie eine römische Soldatin starren mit Wichspuppengesichtern, das heißt offenen Mund und offenen Augen erstarrt in meines.
Ich arbeite doch seit Jahren hier, ihr kennt mich, manchmal hättet ihr mir winken können ihr Einwohner. Ich wollte doch nur dem Tier hier helfen. Ihm seinen Schnabel entnehmen. Es wäre der erste Taubenschnabel in meiner Tasche.
Ich schaue zur Taube die ebenfalls in einer Zeitlupenartigen Bewegung den beiden Personen innerhalb des Raumes winkt. Und dann.....
Dreht sich mein Blick ungewollt um 60 Grad gegen den Uhrzeigersinn nach oben. Ich sehe meine Gondel an mir vorbeifahren und überhole Regentropfen.

Die Augen der Taube wirken, wie alle Augen von Flugtieren panisch schaut man ihnen ins Gesicht. Ich halte sie jedoch fest und behüte sie um sie zu beruhigen. Ebenso versuche ich eine vertikale Position zu erhalten, bleibe jedoch in der Horizontalen. Die Regentropfen die auf meinen Rücken kleben bleiben, entweichen meiner Haut und schweben von mir davon. Als wäre der Himmel vor mir ein Staubsauger.
Ich glaube, nein, ich bin mir sicher gerade zu kündigen. Fick dich Job, fick dich Hansen, fick dich Chef. Die Taube wird mein neuer Freund in der nächsten Zeit. Ihre Krallen bohren sich so wundervoll leidenschaftlich in meine Brust während, das Geräusch der Straße unter mir lauter wird.
Warum so eine Panik, Taube? Ich nenne dich Drago. Hallo Drago, beruhige dich. Wir sind jetzt Freunde. Du darfst deinen Schnabel behalten. Wenn wir am Boden sind, dann sind wir sicher. Und wenn du dich unsicher fühlst, darfst du auch gern in dein Zuhause zurückkehren, in die Luft.

Erinnerungen von früher wollen sich vor meinen Augen bilden. Aber ich lausche dem letzten Vers des Liedes als mein Rücken den Kopf eines Kindes so wie die Brüste einer vermutlichen Mutter erschlägt und ich dem Boden nahe bin. So schlimm ist das gar nicht, man spürt im letzten Moment nichts mehr. Vermutlich sind all die Empfindungen mit dem Brechen der Wirbelsäule verschwunden.
Ich will dem netten Herrn der in der Nähe von mir gebeugt über mir steht Hallo sagen, doch spucke mich mit einem Blutregengemisch voll. Dabei entdecke ich, dass die Taube meinem vorherigen festen Griff entfliehen konnte und mir davon flattert.
"Dragon fly, Dragon fly! Broken Wings chained until the end. Beauty that will die"

(Bericht aus der Tageszeitung:)
Der mutmaßliche Taubenfänger vom Hochhaus an der 27sten entpuppte sich als Putzkraft für die Außenreinigung. Die abgerissenen Schnäbel in seiner Tasche die gefunden wurden stammen von bereits verstorbenen Tieren. Es ist jedoch noch unklar ob Tieraktivisten ihn vom Dach stießen, während er sich einer Taube widmete.
Die Tierschützer, die auf ihn eintraten als er verstarb werden am kommenden Mittwoch einen milden Prozess erwarten dürfen.
Indizen deuten inzwischen auf einen Selbstmord. So sprachen Kollegen von seinen Plänen des Ausstiegs. "Hansi wollte seinen letzten Tag beim Sturm absolvieren. Wir wollten ihn abhalten, aber er drehte nur seine Musik lauter und sprach von einem Drachen". Zitat des Kollegen.