Montag, 9. Dezember 2013

Aus der Erzählung des Wildschweins

Marie hat so schöne Narben. Jeder spricht sie darauf an. Im Sommer schimmern die frischen Stellen zwischen der Hellen Haut im Licht als würde Glitzer in den blutverkrusteten Schlitzen darauf tanzen.
Seltsam, ich bekomme Gänsehaut wenn ich daran denke den Glitzer herauskratzen zu wollen.
Ich selbst habe leider noch keine Narben. Dafür bin ich noch zu jung, so sagen es die anderen. Meine Narben muss ich mir erst verdienen.

Samantha hat eine Klasse übersprungen. Sie hat sich zu ihren 14. Geburtstag vergewaltigen lassen. Ihre Eltern konnten gar nicht abwarten, dass sie sich ihre ersten Narben zufügte und zeigten ihr Dokumentationen in denen Menschen sich die Haut von den Armen schnitten und diese aßen. Doch Samanthas Narben sehen nicht so schmerzhaft aus wie die von Marie. Eher wie Gewohnheitsschnitte.
Das ist ähnlich den Tätowierungen die unsere Eltern und deren Freunde haben. Ein lapidares Bild von irgendwas das einfach auf der Haut thront. Mein Vater erzählte mir, dass er damals ein Mädchen wie Marie sofort geheiratet hätte aufgrund der Narben. Meine Mutter hat nur 2 Narben und die geschahen durch einen Unfall. Dafür gab es keine Anerkennung. Unfälle geschehen jedem.

Vor 2 Wochen stand ich mal ganz vorne in der Schlange, die sich zu Marie hinzog. Ich fragte sie ganz dezent, wie es sich anfühlt, wenn die Narben geschehen. Marie war ganz erfreut auf die Frage, so schien es mir zumindest.
Sie sprach von einem Hauch des Todes, geparrt mit Angst und Sehnsucht. Aufregend und beängstigend zu gleich. Jedenfalls sehr interessant.
Marie hat wirklich Glück, dass ihre Eltern ihr schon erlauben sich Narben zuzufügen. Meine scheinen mich nicht genug zu mögen. Sie sagen, dass irgendwann die richtige Zeit dafür gekommen ist. Irgendwann ist aber scheiße. Ich will jetzt gezeichnet vom Leben sein. Aber ich darf ja nicht mal Abends raus. Und einen Freund finde ich auch nicht, solange ich keine Narben habe.

Abends beim Essen, schnitten meine Eltern kurz vor dem Servieren den Unterarm von Denise, meiner Schwester, an um das Essen mit dem Blut unserer Familie zu segnen. Denise begann den Fehler sich selbst zu schneiden ohne ein Erlebnis zu haben. Weder starb eine enge Beziehungsperson von ihr, noch hatte sie Schulstress oder familiären. Sie wollte wie ich einfach auch mal beachtet werden. Aber Selbstschneider müssen 10 Jahre lang daheim bleiben und sollen 1 mal im Monat ihr Blut dem Essen wiedergeben, dass allesamt verspeisen. Ihr Blut schmeckt mir aber uninteressant.
Ich würd gern wissen ob meines interessanter schmeckt. Aber ich bin die letzte Hoffnung meiner Eltern und darf nicht auf den Wegen meiner Schwester wandeln. Ich muss mir die Narben erst verdienen.

In der Nach konnte ich nicht schlafen. Wieder ein Traum bei dem mir ein Killer nur knapp die Kehle aufschnitt ich mich aber befreien konnte und das Blut an mir herunter laufen sah. Ein Traum im Wachzustand. Wo sind die Killer wenn man sie braucht? Draußen sind die Straßen leer. Niemand geht mehr raus. Nicht aus Angst, sondern rein aus Faulheit.
In der Küche fand ich das alte Brotmesser, während ich mir eine Currywurst in der Microwelle warm machte.
Gerade denke ich an Omas Geschichten von ihrer Zeit. Zu den Anfängen der Narben. Als die Menschen noch Probleme hatten und sich für alles was sie nicht regeln konnten sich Narben zufügen konnten ohne Anerkennung oder aber Bestrafung zu erleiden. Ich war Omas Pokémon. Sie piercte meine Lippen, den Bauchnabel und die Augenbrauen als ich 10 wurde. Kurz danach gab es Piercingkabinen für 10€. Gleich neben den Fotokabinen aus den 90ern die kaum einer mehr nutzt. Mir gefallen diese Kabinen irgendwie.

Mir fiel kaum auf, dass ich die Currywurst stehen ließ und mit dem Brotmesser in meinem Zimmer stand. Ich schaute zum Fenster hinaus, sah den Mond hellerleuchtet. Ebenso fühlte ich eine beängstigende kitzelige Berührung auf meinem Arm.
Blut, eine winzige Blutspur. Hervorgerufen von dem Messer, das ebenfalls etwas Blut an seinen Kanten hatte. Ich habe mich wohl unbemerkt geschnitten, und das nicht gerade tief. Dennoch klafft eine Rinne in meiner Haut die der einer Wurst ähnelt.
Ich fühle befriedigende Angst, mein Atem ist hörbar wie das rascheln der Mäuse auf dem Dachboden. Ich will mehr.

Um von meinen Eltern nicht erwischt zu werden, stieg ich in meinen Kleiderschrank und verschloss die Türen von innen. Vielleicht hätte ich ein Licht mitnehmen sollen, doch wozu. Was ich nicht sehe ist auch nicht zum fürchten. Ich spürte den leichten Druck, mit dem ich die Klinge des Messers an mein Arm  drückte und zog sie rasch in eine Richtung die von mir weg zeigte. Kurzes Flimmern vor den Augen, ein zucken und dann Wärme und das kitzelige Gefühl. Es ist schön. Ich mag das.
Ich schnitt wieder eine weitere Kerbe, nachdem das Gefühl verschwand. Das könnte ich die ganze Nacht machen, wobei ich mich schon schläfrig fühle aber auch zu schwach für das Bett.

Ein warmer Hauch gleitete um meinen Hals, als würde eine fremde Person hinter mir sitzen und mich gleich an sie reißen. Ich werde hoffentlich vergewaltigt, dann sind die Narben sogar berechtigt. Ich zog das Messer schnell über meine Handfläche und streckte sie nach hinten zu der Schrankwand, die jedoch kaum auffindbar war. Mein Puls beschleunigte sich, als eine warme weiche feuchte Masse sich um meine Hand schwang und wie ein Tentakel mit Pümpel an ihr saugte. Ich bezweifel, dass ein Vergewaltigung durch ein Monster nicht etwas unglaublich ist, aber es ist mir egal. Ich zog die Hand weg von dieser Masse und beugte mich nach vorne. Ein Schnauben war spürbar jedoch nicht hörbar.
Dann fuhr etwas blitzschnell durch meinen Rücken. Das müssen mindestens 5 Klingen gewesen sein.

Warmes pumpendes Blut trat aus meinen Rücken hervor, ich spürte deutlich, wie es langsam zu meinem Arsch floss. Ich zog meine Unterlippe hervor und mit einem Rutsch teilte ich sie mit dem Messer in zwei hälften. Mein Blut schmeckt köstlich. Ich schlief ein.

Nachdem ich erwachte, war ich bewegungslos. Gar starr stand ich in einem Wald der kein Gras und kein Moos hatte. Kahle menschenfarbene Bäume um mich herum. Und ich war einer von ihnen.
Ein Kodiakbär tapste auf mich zu, mit einem teilweise genervten Blick. Er schmiegte sich um meinen Stamm, vergewaltigte mich quasi. Dann wetzte er seine Krallen in mein Holz und verpasste ihn wundervolle Narben. Ich denke zurück, und wünschte mir ein Mensch zu sein, um mir selbst Narben zuzufügen ohne auf einen Bär zu warten. Sonnenstrahlen schädigen meine Haut, deren Rinde längst nicht mehr nachwächst. Nur der Mond gibt mir noch Kraft zum hoffen. Der Mond und seine Krater, die wie Runde Narben aussehen.

Ich wünschte ich wäre der Mond. Ich wäre berühmt und jeder würde mich beachten.

5 Kommentare:

  1. Einfach nur wow...soviel indirekte Kritik an die "Trends" der heutigen Jugend... Einfach nur wow...

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  2. Perfekt, ich kann nicht aufhören sie zu lesen..

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  3. ein wahrhaftes Wunder der Literatur 0.0

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  4. Verbindlichsten Dank werte Leser. Es freut mich euren Gefallen getroffen zu haben.

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  5. Du bist ein wundervoller Autor. Eine der besten Geschichten, die ich je gelesen habe.

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